Die Schweizerische Rechtsordnung

Mit Rechtsordnung bezeichnen wir die Gesamtheit der in einem umschriebenen Anwendungsraum (z.B. das Recht eines Staates) gültigen rechtlichen Normen (= Rechtsregeln, Recht, Regeln, Bestimmungen, Gesetzesartikel, geschriebenes Recht).

Damit von Rechtsordnung im engeren Sinn gesprochen werden kann, muss es sich bei dem Staat um einen Rechtsstaat handeln.

 

Die Normenhierarchie (Rangordnung von Rechtsregeln)

Recht muss formal korrekt entstehen, damit es Gültigkeit erlangt. Durch die sog. Normenhierarchie

(= Rangordnung, Rangfolge der Rechtsregeln) ist die demokratische Mitbestimmung des Volkes sichergestellt.

 

Die Normenhierarchie umfasst zwei Aspekte:

  1. Verfassungsrecht geht Gesetzesrecht vor und Gesetze gehen Verordnungen vor.
  2. Bundesrecht geht kantonalem Recht vor und kantonales Recht geht kommunalem Recht vor.
Normenhierarchie © 2021 by Miriam Huwiler is licensed under CC BY 4.0
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Da die Schweiz ein föderalistischer Staat ist, sind die Kantone souverän (=unabhängig), ausser die Bundesverfassung legt eine Zuständigkeit des Bundes fest (Art. 3 BV). Dasselbe gilt für die Gemeinden: Sie sind ebenfalls so weit souverän, wie die Kantonsverfassungen es zulassen.

 

Unter der Berücksichtigung beider Aspekte der Normenhierarchie wird klar: die Bundesverfassung ist unser höchstes und damit wichtigstes Gesetz. Sie regelt die Organisation unseres Staates, enthält die Grundrechte, unsere politischen Rechte und die Grundlagen für gesamtschweizerisch geltende Gesetze, wie das Zivilgesetzbuch und das Obligationenrecht, das Umweltschutzgesetz oder das Strafgesetzbuch. 

 

Änderungen der Bundesverfassung unterliegen dem obligatorischen Referendum, d.h. es kommt auf jeden Fall zur Volksabstimmung, bei der das Volk- und Ständemehr notwendig sind, damit die Änderung in Kraft tritt. Durch das Initiativrecht haben die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Möglichkeit eine Verfassungsänderung (Total- oder Teilrevision) zu initiieren. 

Änderungen von Bundesgesetzen oder die Einführung neuer Bundesgesetze werden vom Parlament (Legislative) vorbereitet und unterliegen dem fakultativen Referendum. Die vom Parlament vorgeschlagene Anpassung wird dem Volk nur zur Abstimmung vorgelegt, wenn innerhalb von 100 Tagen 50'000 Unterschriften gesammelt und bei der Bundeskanzlei eingereicht werden. 

Für den Erlass von Verordnungen ist der Bundesrat zuständig. Für Verordnungen ist keine Mitbestimmungsmöglichkeit des Stimmvolkes vorgesehen. Die Normenhierarchie legitimiert Verordnungen demokratisch (siehe Tabelle unten).

 

Hierarchiestufe

Inhaltsbeschreibung

Beispiele

Verfassung

Die Verfassung ist das oberste Gesetz eines Staates.

Dies gilt in der Schweiz für den Bund (Bundesverfassung) und für die Kantone (Kantonsverfassungen).

Auch Gemeinden (3. Staatsebene der Schweiz und kleinste organisatorische Einheit) können eine Gemeindeverfassung haben.

Verfassungen bilden die Grundlage für die Erarbeitung von Gesetzen.

 

Art. 63 BV Berufsbildung

1 Der Bund erlässt Vorschriften über die Berufsbildung.

Art. 122 BV Zivilrecht
1 Die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilrechts und des Zivilprozessrechts ist Sache des Bundes.

Gesetz

Gesetze dienen der näheren Ausführung einzelner Verfassungsartikel. Jedes Gesetz hat eine verfassungsrechtliche Grundlage (vgl. Art. 42 ff. BV).

In der Schweiz gibt es Bundesgesetze, die für die ganze Schweiz gelten, kantonale Gesetze, welche nur im jeweiligen Kanton gelten und Reglemente auf Gemeindeebene.

 

Bundesgesetz über die Berufsbildung (Berufsbildungsgesetz, BBG)

 

Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht, OR)

-> Mietvertrag, Art. 253 ff. OR

 

Verordnung

Eine Verordnung enthält Ausführungsbestimmungen zum jeweiligen Gesetz.

Es gilt: Ohne Gesetz gibt es keine Verordnung.

 

 

 

Verordnung über die Berufsbildung (Berufsbildungsverordnung, BBV)

 

Verordnung über die Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen (VMWG)

 

HINWEIS: Verordnungen sind nicht dasselbe wie Notverordnungen!

 

Öffentliches und privates Recht

Die Gesamtheit aller Rechtsnormen im geschriebenen Recht wird in zwei grosse Bereiche gegliedert:

  • Öffentliches Recht
  • Privatrecht (oder privates Recht, auch Zivilrecht)

Das öffentliche Recht regelt die Beziehung zwischen verschiedenen staatlichen Behörden und den Rechtsverkehr zwischen Bürgerinnen und Bürger und staatlichen Behörden. Im öffentlichen Recht ist der Staat dem Bürger übergeordnet; der Staat handelt hoheitlich.

Es wird in der Regel von Amtes wegen angewendet, d.h. eine Behörde (z.B. die Polizei) oder ein Gericht wird von sich aus tätig (ohne Auftrag einer Privatperson). 

Da der Staat durch öffentliches Recht in die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger eingreift, müssen die Rechtsregeln sogenannten zwingenden Charakter haben (siehe unten).

 

Beispiele für öffentliches Recht:

 

Das Privatrecht regelt die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander. Im Privatrecht stehen sich zwei (oder mehrere) gleichgestellte Personen gegenüber. Das private Recht betrifft nur die beteiligten Personen oder Parteien. Bei der Aushandlung des Rechts sind sie grundsätzlich frei, müssen sich aber an die zwingenden Vorschriften halten. Um Privatrecht durchzusetzen, müssen die Parteien selbst tätig werden.

Privatrecht ist demnach mehrheitlich dispositiver Natur (siehe unten). 

 

Die wichtigsten privatrechtlichen Gesetze sind das ZGB und das OR.

 

Zwingendes und dispositives Recht

Im Zentrum des Privatrechts (siehe oben) stehen Verträge. Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen werden in der Regel durch Verträge begründet (Ausnahme: die Ehe als Rechtsinstitut).

Verträge sind demnach auch Recht (= erzwingbare Regeln). Sie entstehen, wenn zwei Parteien gegenseitig ihren Willen äussern eine Leistung und (üblicherweise) eine Gegenleistung zu erbringen (Art. 1 OR), die Parteien handlungsfähig sind (Art. 12 ZGB), der Vertrag einen zulässigen Inhalt hat (Art. 19 und 20 OR) und in der korrekten Form (Art. 11 OR) vorliegt.

 

Typisch sind Kaufverträge:

Art. 184 Abs. 1 OR beschreibt die Hauptpflichten beim Kaufvertrag: "Durch den Kaufvertrag verpflichtet sich der Verkäufer, dem Käufer den Kaufgegenstand zu übergeben und ihm das Eigentum daran zu verschaffen, und der Käufer, dem Verkäufer den Kaufpreis zu bezahlen."

Die Übertragung des Eigentums (vgl. Art. 641 ZGB) ist das Unterscheidungsmerkmal zum Mietvertrag, bei dem bloss der Besitz (vgl. Art. 919 ZGB) übertragen wird.

 

Wie wir Verträge gestalten können, hängt davon ab, wie stark der Gesetzgeber den Vertrag gesetzlich geregelt hat. In den Grundsatz der Vertragsfreiheit greift der Gesetzgeber nur ein, wenn er aufgrund einer faktischen Übermacht einer Partei die andere Partei besonders schützen will. Dies ist vor allem der Fall im Arbeitsrecht, da der Arbeitnehmende dem Arbeitgeber bei rechtlichen Forderungen faktisch unterliegt, da er vom Arbeitgeber wirtschaftlich abhängig ist. Im Arbeitsrecht finden sich deshalb die meisten zwingenden Bestimmungen.

Ansonsten enthält das Obligationenrecht weitestgehend dispositive Normen. Das heisst, die Vertragsparteien können die Vertragsbestimmungen selber festlegen (z.B. Erfüllung- oder Haftungsregeln). Wenn ein Rechtsstreit auftritt und die Parteien haben keine eigene Regelung getroffen (oder aufgrund einer mündlichen Absprache kann die Regelung nicht bewiesen werden), dann kommen die dispositiven (=ergänzenden) Regeln des Gesetzes zur Anwendung.

 

Abgesehen von den Entstehungsgründen für Verträge, gewissen Bestimmungen und den Legaldefinitionen (= Begriffsdefinition im Gesetz) sind Bürgerinnen und Bürger also weitestgehend frei, wie sie ihre Vertragsbeziehungen gestalten.

Das OR gilt im Streitfall dann, wenn wir untereinander keine andere Regel abgemacht haben. Um zu erkennen, wann wir eine Regel des Gesetzes abändern dürfen, müssen wir erkennen, ob die Regel  dispositiv (abänderbar) oder zwingend ist. 

 

Häufig erkennen wir dispositives Recht am Wortlaut. Es heisst «dürfen abgeändert werden» oder «können». Zwingende Regeln erkennen wir am Wort «müssen». Im Arbeitsrecht (Art. 319 ff. OR) werden weiter absolut zwingende und relativ zwingende Normen unterschieden. Da diese Unterscheidung schwierig ist an Formulierungen zu erkennen, enthalten Art. 361 und 362 OR eine Auflistung der zwingenden Bestimmungen.