Durch Hollywood-Filme haben wir gerne den Eindruck, das Rechtssystem sei auf der ganzen Welt dasselbe oder was in Amerika gelte, gelte auch in Europa. Dem ist aber nicht so. Zwischen dem europäischen und dem anglo-amerikanischen Rechtssystem gibt es wesentliche Unterschiede:
Generell-abstrakte Regeln beschreiben Tatbestandsmerkmale, die im Einzelfall auf ihre Erfüllung geprüft werden. Die Regel enthält eine Rechtsfolge, die eintritt, wenn alle Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Die Rechtsnorm ist so formuliert, dass die Begriffe Interpretationsspielraum lassen. So können die Regeln von den Gerichten nach Auslegungsregeln interpretiert und auf den Einzelfall angewendet werden.
Das Gegenteil von generell-abstrakten Normen wären individuell-konkrete Regeln und das würde bedeuten, dass es tatsächlich für jeden realen Fall eine eigene Regel gäbe (was tatsächlich unmöglich ist).
Hier ein Beispiel für eine generell-abstrakte Norm:
Art. 41 OR |
Tatbestandsmerkmale |
Rechtsfolge |
«Wer einem anderen widerrechtlich Schaden zufügt, sei es aus Absicht oder Fahrlässigkeit, der wird zu Ersatz verpflichtet. |
|
Schadenersatzpflicht des Schädig |
Die Rechtsnorm von Art. 41 OR wirft mehr Fragen auf als sie auf den ersten Blick beantwortet:
Alle diese Fragen müssen in Bezug auf einen konkreten Fall beantwortet werden. Erst durch die Rechtsanwendung anhand der Rechtsquellen kommen wir von einer generell-abstrakten Norm zu einem individuell-konkreten Urteil.
Als Rechtsquellen werden die Orte bezeichnet, wo man Rechtsregeln findet. Art. 1 ZGB sieht für die Anwendung von Recht durch die Gerichte folgende Rechtsquellen vor:
1 Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält.
2 Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde.
3 Es folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.
Mit dem in Absatz 1 erwähnten "Gesetz" ist das sogenannte "geschriebene Recht" gemeint. Es umfasst alle Rechtsregeln, die von der dafür zuständigen Behörde erlassen worden sind (vgl. Normenhierarchie).
Ein Gericht muss also eine Rechtsfrage zuallererst nach dem Gesetz beantworten. Nur wenn in keinem Gesetz eine Antwort auf die Frage gefunden wird, kommt als zweite Rechtsquelle das Gewohnheitsrecht zur Anwendung.
Beispiele für Gewohnheitsrecht:
(1) Höhe des Finderlohns: Art. 722 Abs. 2 ZGB legt fest, dass jemand, der etwas findet, unter Umständen einen Anspruch auf einen angemessenen Finderlohn hat, wenn die Sache zurückgegeben werden konnte. Wie hoch dieser Finderlohn sein soll, sagt das Gesetz allerdings nicht. Gewohnheitsrechtlich gelten 10% des Werts der Fundsache als angemessener Finderlohn.
(2) Ortüblichkeiten, Ortsgebrauch im Mietrecht: Das Mietrecht verweist bei Kündigungsterminen (z.B. Art. 266c OR) auf ortsübliche Termine.
Fehlt auch Gewohnheitsrecht, verweist Art. 1 ZGB auf das sogenannte "Richterrecht". Das Gericht stellt eine Regel auf, um die Rechtsfrage zu beantworten, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. Dabei folgt es bewährter Lehre und Überlieferung.
Mit Lehre sind die von Rechtsgelehrten geäusserten Lehrmeinungen gemeint, die in der rechtswissenschaftlichen Literatur anerkannt sind. Sie helfen den Richtern bei der Urteilsfindung.
Mit Überlieferung ist die Rechtsprechung als Präjudiz gemeint. Die Urteilsbegründung eines übergeordneten Gerichts (meistens Bundesgericht) ist für ein untergeordnetes Gericht wegweisend, wenn es einen ähnlichen Rechtsfall zu beurteilen hat. Daraus entsteht eine einheitliche Rechtsprechung.
Beispiel:
Ein sog. Leitentscheid des Bundesgerichts zum Schadensbegriff ist BGE 132 III 359.